Vor Jerusalems Stadtmauer lebten früher viele Hasen. Sie hatten sich dort niedergelassen, weil es ihnen dort recht gut gefiel. Die Menschen hatten Gärten angelegt, in denen duftende knackige Kräuter und Möhren wuchsen. Aber es gab auch Kohl und Obst in Hülle und Fülle. Auf den Wiesen konnten die jungen Hasen herrlich spielen und dort, wo es felsig war, sich prima verstecken. Nur einen Nachteil hatte es in der Nähe von Menschen zu wohnen – die hatten nämlich Hunde. Und wenn die Menschen in ihre Gärten kamen, dann brachten sie ihre Hunde mit und diese jagten die Hasen allzu gern. Die meisten Hasen kannten das schon und machten sich nicht mehr viel daraus. Sie spielten dann ganz einfach ‚verstecken’ mit den Hunden. Ein Hase versteckte sich in einer tiefen Mauerritze und kicherte nur, wenn der Hund davor stand und bellte. Ein anderer sprang unter eine Baumwurzel und rief sogar noch: „Huhu, fang mich doch, du dicker Koch.“
Wenn dann der Hund angerannt kam, rief wieder der andere Hase aus der Mauerritze: „Schlafmütze – Kieselspitze.“
Und so hetzte der Hund hin und her, aber die Hasen lachten nur darüber. Nur ein Hase, Stumpi, ein ganz kleiner, der hatte immer sehr viel Angst und spielte solche Spiele niemals mit. Seine Oma hatte ihm immer geraten, sich da raus zu halten. „Hunde beißen“, hatte sie gesagt, „und manchmal töten sie sogar in ihrem Jagdfieber kleine Hasen.“
Auch wenn es dunkel wurde, hatte der kleine Hase Angst, weil seine Oma gesagt hatte: „Es gib Räuber und Gespenster draußen. Hüte dich vor ihnen.“ Auch zum Baden an den See ging der kleine Hase niemals mit, weil seine Oma gesagt hatte: „Im Wasser kann man ertrinken“ und „Hasen können nicht schwimmen.“ Die älteren Hasen hatten zwar alle tapfer schwimmen gelernt, aber davon wollten die Oma und ihr Enkelchen nichts wissen. So spielte der kleine Hase oft alleine oder mit dem noch kleineren Häschen Ulli. Ulli war noch ein Baby und konnte sowieso noch nicht mit den größeren spielen. Und immer, wenn die anderen Hasenkinder den kleinen Hasen Stumpi sahen, riefen sie: „Angsthase – Pfeffernase, Angsthase – Pfeffernase.“
Da wurde der kleine Hase immer besonders traurig und weinte manchmal. Er fühlte sich dann erst recht einsam und alleingelassen.
Eines Tages geschah etwas Außergewöhnliches. Die Menschen kamen aus dem Stadttor heraus, aber sie gingen nicht in ihre Gärten, um dort zu arbeiten. Nein, sie bildeten ein Spalier und hindurch ging ein Mann, der ein großes schweres Kreuz trug. Die Menschen eschimpften den Mann und manche spuckten ihn sogar an.
„Aber das ist ja Jesus“, riefen die Hasen. „Was machen die Menschen denn da mit ihm? Er war doch immer gut zu allen. Auch zu uns war er freundlich. Nie hat er gescholten, wenn wir uns mal eine Möhre aus einem der Gärten geholt oder ein bisschen am Kohl geknabbert haben. Er hat so oft und ganz andächtig im Garten gebetet. Da kann man ihn doch jetzt nicht einfach hinrichten dafür.“
In einigem Abstand folgten die Hasen, und auch andere Tiere, dem Zug der Menschen hin zum Berg Golgota. Sie wollten sehen, was da geschah. Entsetzt mussten sie miterleben, wie Jesus ans Kreuz genagelt wurde. Da, plötzlich, als Jesus noch einmal gebetet hatte:„Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ und dann starb, verdunkelte sich die Sonne und es kam eine große Finsternis über das Land. Alle, Menschen und Tiere, erschraken heftig. Und ein Blitz fuhr vom Himmel herab und erleuchtete diese schreckliche Szene. Im Licht dieses furchtbaren Blitzes sahen die Hasen plötzlich den Fuchs. Auch er war gekommen, um zu sehen, was da geschehen war. Aber als er die vielen Häschen erblickt hatte, freute er sich und wollte sich gleich eines fangen, um es aufzufressen. Alle Häschen rannten gleich weg und nach Hause. Nur den kleinen Ulli hatten sie vergessen und der konnte doch noch gar nicht richtig laufen. Der Fuchs stand bedrohlich vor ihm und lachte: „Ha, ha, was wird das für ein schöner, zarter Braten.“ Nur unser kleiner Hase Stumpi, der hatte aufgepasst. „Der Fuchs will den kleinen Ulli fressen“, rief er. „Das lasse ich nicht zu, er ist mein Freund.“ Er stürmte zurück, biss den Fuchs in den Schwanz, gerade als dieser den kleinen Ulli packen wollte, schnappte sich seinen Freund und lief mit ihm ganz schnell in eine Höhle, die ganz nahe war, um sich dort zu verstecken. Der Fuchs, der sich heftig über diesen Überraschungsangriff erschrocken hatte und sich den Schwanz, der nun sehr schmerzte, leckte, wollte hinterher, aber er konnte an die Höhle nicht herankommen. Die Menschen nämlich, hatten inzwischen den toten Jesus vom Kreuz abgenommen und legten ihn nun in die Höhle, die eigentlich ein Grab war. Ängstlich schauten die kleinen Häschen aus der äußersten Ecke, in die sie sie sich versteckt hatten, zu und beobachteten, wie die Menschen Jesus salbten und in Tücher wickelten. Dann beteten sie und verschlossen das Grab mit einem großen Stein. Dann gab es nur noch Dunkelheit – Jesus war tot. „Jetzt sind wir gefangen“, dachte der kleine Hase. „Müssen wir jetzt sterben?“, fragte der kleine Ulli. Beide Häschen waren sehr verängstigt. „Lass uns zuerst ausruhen und etwas schlafen“, sagte der kleine Hase Stumpi zu seinem Freund Ulli.
„Es war ein aufregender Tag und wahrscheinlich steht der Fuchs sowieso noch draußen. Morgen überlegen wir, wie wir hier wieder herauskommen.“ Sie beteten für Jesus, dass Gott ihm beistehen möge, und schliefen dann erschöpft ein. Keiner der beiden Häschen wusste wie lang sie geschlafen hatten. Da geschah etwas, was noch nie in einem verschlossenem, dunklen Raum geschehen war:
In der Höhle wurde es taghell – ja heller noch, als das Tageslicht. Die Häschen mussten blinzeln, weil das Licht sie blendete.
Nachdem sich ihre Augen einigermaßen an den hellen Schein gewöhnt hatten, sahen sie Jesus vor sich stehen und einen Engel. Jesus sagte zu den Häschen, dass er sich gefreut habe, dass sie für ihn gebetet hatten. Er konnte den Tod überwinden, weil Gott-Vater im Himmel es so wollte, damit er die Menschen retten könne. Niemand brauche mehr Angst zu haben, weil er nun den Menschen versprechen könne:
„Ich bleibe bei euch, bis ans Ende eurer Tage. Ich werde euch erlösen und ihr werdet auferstehen und im Reiche meines Vaters mit mir ewig leben.“ Da freuten sich die Häschen und nachdem der Engel den großen Stein vor dem Grab weg geschoben hatte, liefen sie ganz schnell nach Hause. Dort erzählten sie, was sie erlebt hatten: „Christus ist auferstanden in der Osternacht! – Er lebt“; riefen sie. „Wir brauchen nie wieder Angst haben, vor nichts und niemanden!“ Wie freuten sich da alle Hasen. Und niemand von ihnen traute sich mehr „Angsthase“ zu dem kleinen Hasen zu sagen, der so tapfer gewesen war. Sie nannten ihn von nun an ganz ehrfurchtsvoll „Osterhase“.