Es war am Heiligen Abend. Die Kinder der großen Familie waren schon ganz aufgeregt. Die Mutter hatte den Kaffeetisch gedeckt, dem Großvater den jüngsten Enkel auf den Schoß gesetzt und die beiden geheißen Weihnachtslieder zu singen. Die anderen Kinder zappelten durch die Stube, sollten aber längst mit beim Großvater am Tisch sitzen. Der Vater hatte noch die letzten Dinge am Weihnachtsbaum zu richten, dessen Spitze über den Vorhang, der durch die Stube gezogen worden war, hervorschaute. Dann war die Mutter ebenfalls hinter dem Vorhang verschwunden, um für jedes Kind einen Weihnachtsteller mit Äpfeln, Nüssen und ein paar Süßigkeiten, sowie einem kleinen Geschenk zu richten. Immer wieder rief sie: „Ihr sollt singen Kinder – sonst wird das Christkind nicht kommen. Großvater, warum singst du nicht? Du weißt doch, das Christkind steht sicher schon vor der Tür.“
Der Großvater indessen hatte den Kopf auf den Tisch sinken lassen. Der kleine Enkel war von seinem Schoß auf den Boden geglitten. Die anderen Kinder sahen das und riefen: „Großvater, Großvater, was ist dir?“
Die Mutter kam hinter dem Vorhang hervor.
„Vater, was ist dir?“, rief sie erschrocken. Ihr Vater war erst vor wenigen Tagen aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen. Sie meinte wohl, dass er noch geschwächt sei und sprach ihn beruhigend in seinem schlesischen Dialekt an: „Komm og, komm og, setz dich in den Sessel und ruh dich.“
Die Kinder sahen, dass der Großvater am Ende seiner Kräfte war. Sie umringten ihn und baten: „Großvater, Großvater, warte mit uns auf das Christkind.“
„Ja“, sagte er lächelnd, „ich warte. Gleich wird es kommen und dann meine Seele mit sich nehmen.“
„Wie soll das geschehen?“, fragte der älteste Enkel.
„Gleich, gleich, Kinderle“, antwortete der Großvater. „Gleich wird es hell werden und alle Seelen hier im Raume werden jubeln und sich freuen.“
Und tatsächlich. Die Mutter wollte die Kinder vom Großvater ablenken, zog den Vorhang zur Seite und sogleich wurde es ganz hell im Zimmer. Der Vater war gerade fertig geworden die Lichter am Baum anzuzünden und all die herrlichen Gaben erstalten in seinem Glanz. Die Kinder stürzten sich auf die Geschenke und der Jubel war groß. Nur der älteste der Enkel war beim Großvater geblieben. Er sagte: „Du hast recht Großvater. Es ist ganz hell geworden bei uns und alle jubeln und freuen sich. Nur du freust dich nicht – warum?“
„Oh, ich freue mich auch. Siehst du, ich freue mich über euch und die Geschenke, die ihr vom Christkind bekommen habt. Zu mir wird das Christkind gleich treten und meine Seele mit sich nehmen. Weißt du, sie ist nämlich schon recht alt und kann nicht mehr wachsen. Das Christkind aber wird sie mit sich nehmen und wie die Feder einer Uhr wieder aufziehen. Dabei wird sie wieder ganz klein, eben wie die Feder bei der Uhr. Und wenn sie wieder ganz klein ist, dann wird das Christkind sie nehmen und in Gottes Hand legen. Der wird schauen, ob sie bei ihm bleiben darf oder ob er sie woanders nochmal braucht. Vielleicht tut er sie in ein kleines Kind, das jetzt geboren werden soll, wieder hinein. Dann darf die Seele noch einmal ihr bestes geben, um aus dem kleinen Menschlein einen guten Menschen werden zu lassen. Die Seele muss dann vielleicht kämpfen mit den Charaktereigenschaften, die dieser Mensch hat, mit den Einflüssen, die auf ihn einprasseln werden und sie wird daran wachsen und sich immer weiter bemühen müssen, gut zu sein. Hilf du nur deiner Seele, dass sie gut leben kann, so wie ich es auch immer getan habe.“
„Wie hast du das gemacht, Großvater? Sag´ es mir bitte.“
„Du weißt, wir haben unsere Seele von Gott bekommen. Sie sagt uns, was gut ist im Leben und was böse. Wir sollen auf sie hören. Wenn wir mal Angst haben in unserem Erdendasein, dann beruhigt sie uns und oft zeigt sie auch einen Ausweg. Sie sagt uns, dass Gott bei uns ist alle Tage unseres Lebens. Als ich noch jung war und zur See fuhr, hatte ich große Angst während eines bösen Sturms. Meine Seele hat mir dann gesagt: Ängstige dich nicht. Hilf das Schiff gut zu manövrieren und hilf deinen Kameraden an Bord. Und das war gut so. Manche hatten nämlich noch viel mehr Angst und wollten schon verzagen. Aber es ging dann doch alles gut.
Später hat meine Seele die gute Seele einer Frau entdeckt. Ich habe sie geheiratet und sie ist die Mutter deiner Mutter geworden. Und weil unsere Seelen so gut harmonierten, hat deine Mutter noch einige Geschwister bekommen und so hast du heute Onkel und Tanten. Tja und weil die Oma, die sie ja für dich ist, so gut kochen konnte, habe ich später einen dicken Bauch bekommen und die Oma hat dazu gesagt, dass ich ein stattlicher Mann sei mit einer etwas barocken Figur. Ja, es war eine gute Zeit, die meine Seele hier auf Erden leben durfte. Ich freue mich noch heute über ihr Geleit in mir. Aber nun geh´ mein Lieber und bring´ mir das kleine Tunzelkissen. Mein Kopf ist schwer und müde. Er soll ausruhen und auf das Christkind warten.“
Der Junge tat wie ihm geheißen, brachte das kleine Kissen, das der Großvater seit seiner Kindheit liebte, und legte es ihm hin. Der Großvater legte seinen Kopf darauf, schloss die Augen und lächelte dabei. Er sah jetzt das Christkind, das ihm leicht über die Haare strich und seine Seele mit sich nahm.
So jubelten tatsächlich alle Seelen im Raume, die kleinen über die Weihnachtsgeschenke und die der Eltern wussten die Seele des Großvaters erlöst, die sich längst nach der seiner Frau und nach dem Himmelreich gesehnt hatte. Und die Seele des Jungen hatte etwas ganz wichtiges gelernt an diesem Heiligen Abend und somit auch ein großes Geschenk erhalten. Er wusste nun um das Wissen und das Vertrauen der großväterlichen Seele.
Peter Völkel